„Von der äußeren Organisationsform eines Unterrichtsfachs auf dessen Wirksamkeit zu schließen, greift zu kurz.“ Fünf Fragen an Marcel Grieger
Dr. Marcel Grieger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Empirische Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Göttingen. Im Bereich politischer Bildung sieht er Forschungsbedarf zu den Auswirkungen fachfremden und fächerübergreifenden Unterrichts sowie der Entwicklung und Überprüfung von Kriterien ‚guten‘ Unterrichts.
Dr. Marcel Grieger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Empirische Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Göttingen. Im Bereich politischer Bildung sieht er Forschungsbedarf zu den Auswirkungen fachfremden und fächerübergreifenden Unterrichts sowie der Entwicklung und Überprüfung von Kriterien ‚guten‘ Unterrichts.
1. Was ist Ihr aktuelles und was war Ihr letztes Forschungsprojekt zur politischen Bildung?
Zurzeit recherchiere ich, an welchen Schulformen und in welchen Jahrgängen im deutschen Schulsystem gesellschafts- und naturwissenschaftliche Integrationsfächer angeboten werden. Daraus wird eine digitale Landkarte entstehen. Außerdem trage ich zusammen, was wir über die Effekte dieser Integrationsfächer im Vergleich mit ihren einzelfachlichen Pendants wissen. Zuvor habe ich das Fortbildungsangebot für Lehrkräfte der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer in Niedersachsen vor, während und nach der COVID-19-Pandemie ausgewertet. In meinem von der DFG geförderten Projekt „Ursachen und Effekte des Umgangs mit Herausforderungen beim fächerübergreifenden Unterrichten in gesellschaftswissenschaftlichen Verbundfächer (FUGEV)“ werden wir ab Oktober 2025 mit einer deutschlandweiten Befragung untersuchen, welche Effekte die besonderen Herausforderungen von Fächern wie Gesellschaftslehre auf die Gesundheit von Lehrkräften haben und ob Faktoren wie Fortbildungen oder kollegiale Kooperation hier entlastend wirken. Die Veröffentlichungen und Vorträge werden fortlaufend aktualisiert.
2. Welche Ihrer Forschungsergebnisse schätzen Sie als besonders relevant für die Praxis politischer Bildung ein?
Von der äußeren Organisationsform eines Unterrichtsfachs auf dessen Wirksamkeit zu schließen, greift zu kurz. Klassenmanagement kann in Gesellschaftslehre gelingen, dafür in Geschichte, Geografie und Politik misslingen. Mit der eigenen politischen Meinung kann die Lehrkraft in Einzelfächern reflektiert umgehen, dafür in Integrationsfächern überwältigen. Qualitätsvoller Unterricht zeichnet sich weniger durch sichtbare Separation oder Integration aus, sondern vielmehr durch die nicht direkt beobachtbaren unterrichtlichen Prozesse wie ein Unterrichtsklima, in dem sich alle wohlfühlen, oder kognitiv anregende Arbeitsprozesse. Nicht das Was, sondern das Wie ist entscheidend. Selbst potenziell negative Folgen der Fachfremdheit können an Bedeutung verlieren. In der Forschung können wir weitere Merkmale in der Klasse (z. B. das politische Vorwissen) oder Schule (z. B. die geteilte Überzeugung des Kollegiums, ‚guten‘ Politikunterricht machen zu können) überprüfen (kontrollieren), z. B. ob das Vorwissen die Fachfremdheit etwas ‚kompensieren' kann oder wenig Vorwissen den Effekt eher ‚verstärkt'.
3. Welche Themen im Kontext politischer Bildung sollten Ihrer Meinung nach beforscht werden?
Die Auswirkungen der Fachfremdheit und des fächerübergreifenden Unterrichtens auf die Konzeption des Unterrichts und die Lernleistungen sind meiner Ansicht nach spannende Forschungsfragen. Hier fehlt es in methodischer Hinsicht vor allem an Studien, die Effekte auf Schüler- und Klassenebene, unter Kontrolle weiterer Merkmale wie des sozioökonomischen Status der Schüler*innen, berücksichtigen.
4. Welchen Gewinn kann ein Dialog von Wissenschaft und Praxis und ein Austausch zwischen den Wissenschaftsdisziplinen für die politische Bildung bringen?
Im Austausch mit den Nachbardisziplinen kann die politische Bildung ihre Konturen schärfen (z. B. Handlungsorientierung, Wertebezug) und gleichzeitig über und von Prinzipien anderer Didaktiken lernen (z. B. Geschichtskultur). Der Kontakt zur empirischen Bildungsforschung ist lohnenswert, um aus den etablierten Merkmalen ‚guten‘ Unterrichts (effiziente Klassenführung, konstruktive Unterstützung, kognitive Aktivierung) heraus spezifische Prinzipien für die politische Bildung zu entwickeln und in der Konsequenz zu untersuchen. Die Buchreihe Wirksamer Fachunterricht ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Ferner ist und bleibt die Rückkopplung mit der Praxis unabdingbar.
5. Die Fachstelle politische Bildung hat eine Landkarte der Forschung zur politischen Bildung entwickelt, um Austausch und feldübergreifende Zusammenarbeit zu fördern, zwischen und innerhalb der Wissenschaftsdisziplinen sowie zwischen Wissenschaft und Praxis. Sie sind dort mit einem Eintrag vertreten. Über welche Kontaktaufnahmen oder Anfragen anderer Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen oder sonstiger Interessierter würden Sie sich freuen?
Stimmen aus der Unterrichtspraxis von Integrationsfächern (Gesellschaftslehre, Sachunterricht o. Ä.) aus der zweiten und dritten Phase empfinde ich stets als äußerst gewinnbringend. What works, what doesn’t? Grundsätzlich freue ich mich über jede Kontaktaufnahme zu meinen Forschungsschwerpunkten und -interessen.
Veröffentlicht am 16.05.2025
Zum Weiterlesen
- Sie finden Dr. Marcel Grieger in der Landkarte der Forschung zur politischen Bildung.
- „In Fächern wie Gesellschaftslehre fehlt der Blick ins Klassenzimmer weitestgehend.“ Fünf Fragen an Marcel Grieger (2022) mehr lesen
